Ja, und dann war ich selbst einmal dran. Sechs Injektionen, täglich eine. Der Arzt verschrieb sie
mir. Als Alterfahrene wusste ich schon, wie das nun weiterging. In der Apotheke bekam ich die
Ampullen auf Rezept, aber die Einwegspritzen musste ich dazukaufen, auch ein Päckchen Watte
und ein Fläschchen Sterilisationsmittel. Alles klar.
Wie es Sitte ist, sucht man sich dann jemand unter der Hand, der einem die Injektionen geben
kann. Zuständige sogenannte Praktikanten sind rar, das wissen wir ja schon. Ich fragte im Dorf
herum und traf gleich auf jemand, der Bescheid wusste. Was aber kein Wunder ist, da hier alle
Bescheid wissen, da in jeder Familie immer wieder Injektionen fällig sind. Jetzt, jetzt gehöre ich
auch zu den Wissenden und kann ohne weiteres andere beraten.
Man erklärte es mir genau: unterhalb unseres Dorfes, wo eine Piste am Hang entlang führt,
stehen sieben oder acht ganz gleiche kleine Häuser, in einem davon wohnt die Krankenschwester
Maria Carmen. Die macht das sehr gut.
Die Piste fand ich sehr schnell, und ich wollte am besten gleich im ersten Haus fragen, wo ich
Maria Carmen finde. Bin ja clever. Eine Klingel gab es nicht, und auf mein Klopfen an der
Haustür rührte sich nichts. Vielleicht war jemand hinter dem Haus? Mit kleinen Hallo-Rufen und
"ist jemand da?" (man möchte ja keinen Hund erschrecken) erreichte ich dann einen wunderbar
kühlen, schattigen Hofplatz, der mit Pflanzen aller Art völlig zugestopft war. Das kletterte, und
rankte, wucherte in Grün und blühte in allen Farben. Und duftete. Welch schönes Plätzchen, und
dort traf ich dann auch eine junge Frau. Unser Gespräch war kurz:
"Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo ich die Krankenschwester Maria Carmen finde?"
"Was möchten Sie denn?"
"Injektionen".
"Na, dann kommen Sie man rein".
Was denn! Das war ja ganz toll! So auf Anhieb funktionierte das heute, das gibt es ganz selten
und ist ein Ereignis, das einem hilft, in üblen Fällen Geduld, Nerven und Hoffnung zu behalten.
Sie führte mich in den kleinen Salon, wo ich schon wieder vor einer Überraschung stand: er war
ausgefüllt mit einem riesigen ovalen Hochglanztisch für 12 Personen. Aber für Stühle war da kein
Platz mehr, der Salon war voll. Die waren auch nicht nötig, denn an dem Tisch wurde nicht
gegessen, sondern er war Abstellplatz für Mengen von kleinen und großen Blumentöpfen mit
Zimmerpflanzen aller Art und ihre Ableger. War eben eine Blumenfreundin. Ich bedauerte den
Hochglanz der Tischplatte, konnte ihm aber nicht helfen. Gegen Leidenschaft ist kein Kraut
gewachsen, da kann auch schon mal ein kostbarer Tisch bei draufgehen.
Auf dem vorderen ovalen Ende machte die Blumenbesitzerin eine Handbreit Platz für meine
Injektionszutaten, und ich machte pomäßig gesehen rechts etwas Platz für die Injektion. Da man
nicht weiß, welche Spritzmethode hier angewandt wird, hielt ich mich leicht an der Tischkante
fest, was aber gar nicht nötig gewesen war, denn es hat überhaupt nicht weh getan. Ich hatte nur
die leichte Kühlung der Sterilisation gespürt, und als ich auf den Einstich wartete, war schon
längst alles vorbei. Na toll machte sie das. Ist doch gut, wenn man an einen Fachmann gerät. An
der Wand hing ein klitzekleiner gläserner Zierschrank mit ihren Nippes, diesen kostbaren
Schmuckstücken, an denen der Wohlstand des Hauses gemessen werden kann, und dazu legte sie meine Injektionszutaten (sie fühlten sich bestimmt sehr geehrt).
Ich durfte jeden Tag zur selben Zeit kommen, das passte ihr sehr gut. Am fünften Tag frage ich,
was ich ihr schuldig sei, und sie sagte "gar nichts". Mich wunderte es fast nicht, waren doch alle
Einheimischen sehr hilfsbereit und entgegenkommend und kassierten nicht für nachbarliche Hilfe.
Natürlich zeigte auch ich mich inselmäßig gesittet, war ja schon lange genug hier, und
suchte als Dank unter meinen Orchideen einen wunderschönen Topf aus mit einer gerade sich öffnenden leuchtenden Blüte, und damit hatte ich ins Schwarze getroffen. Sie war hingerissen und fand fast keine Worte für das wertvolle Geschenk. Andere Pflanzen wurden beiseite geschoben, um dieser Königin ihrer Sammlung nun den besten Platz zu geben. Sie konnte sich kaum von dem
einzigartigen Anblick trennen.
Vor dem Gehen gedachte ich, ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Ich bedankte mich für die
erstklassige Behandlung und fragte sie nach ihrer Arbeit als Krankenschwester. Was sollte man
einen fremden Menschen schon fragen, von dem man nichts weiß, und sie sagte: "da muss ich
Sie berichtigen, Maria Carmen, die Krankenschwester, wohnt dahinten im vorletzten Haus, ich
bin Angeles, Hausfrau".
Familie Ingrid & Mathias Siebold
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